martes, 2 de noviembre de 2010

Raoul Ruiz: L' hypothèse du tableau volé

Ein "gestohlenes Gemälde" wird im Titel von Raoul Ruiz' "The Hypothesis of the Stolen Painting" genannt. Und obwohl die entwendete Malerei an sich nach Krimi klingt, ist eben jener Film alles andere als die detektivische Suche nach dem verschwundenen Gemälde. Das absente Gemälde, so erklärt es uns die einzige Hauptperson im gesamten Film, ein namenloser Kunstsammler, ist Teil einer Kollektion von insgesamt sieben Bildern, die im 19. Jahrhundert von dem Maler Tonnerre gestaltet wurden. Als Einzelbilder wenig Aufsehen erregend, seien die sieben Gemälde im Verbund Grund für einen handfesten Skandal gewesen, der sogar zu der Verfolgung Tonnerres geführt habe. Bis heute ist es ein ungelöstes Mysterium, warum ausgerechnet diese Gemäldeserie derart schockierend erschien. Der Kunstsammler wird uns in den folgenden Filmminuten seine Theorie nahe legen – und diese stützt sich grundlegend darauf, dass eben eines der Bilder, das besagte siebte, aus der Kollektion entfernt wurde, um den Kontext des Ganzen zu verwischen und die erzählerischen Binderglieder innerhalb der Bilderfolgen unmöglich rekonstruierbar zu machen.

Tonnerre, der Maler unserer Aufmerksamkeit, hat nie existiert. Er ist nur eine fiktionale Figur, die, zusammen mit einigen kunstphilosophischen Thesen den Büchern Pierre Klossowskis entnommen ist. Ruiz und Klossowski arbeiten ursprünglich eng an "The Hypothesis of the Stolen Painting" zusammen, bis letzterer sich kurzfristig nach Spanien absetzte und Ruiz einen ganz eigenen Film fertig stellte, der nur noch grob auf den Theorien des Schriftstellers basiert. Klossowski, der vehement die Kunst als Realitätsabbildung verneinte, findet nun gerade in Ruiz' perfider Ausgangssituation Reminiszenz. "The Hypothesis of the Stolen Painting" kann durchaus als Mockumentary bezeichnet werden: Die Geschichte erzählt sich fast ausschließlich durch den Interviewstil zwischen dem Sammler, gespielt von Jean Rougeul, und einem Erzähler, der sich aber außerhalb des Filmbildes aufhält. Eventuell ist das Kamerabild sogar der subjektive Blick eben jenes zweiten Mannes, der, ebenso wie wir, Gast im Hause des Sammlers ist.

Um hinter das Geheimnis der sechs, beziehungsweise sieben Kunstwerke zu kommen, ließ der Sammler die Gemälde als "tableau vivants" inszenieren: Eine Reproduktion eines jeden Gemäldemotivs durch lebende Personen. Die Darstellung beschränkt sich hier jeweils auf den durch die Malerei eingefangenen Moment: Alle "tableau vivants" in Ruiz' Film zeigen nur jenen erstarrten Zeitausschnitt, den die Originalbilder vorgaben. Dafür aber mit viel Detailgetreue. So wandert der Sammler durch eben jene "lebendigen Bilder", pickt Details und kleinere Informationen aus den Kulissen und Akteuren heraus und bespricht die Verbindungsglieder zwischen den einzelnen Bildern, um schließlich eine mögliche Drama-Interpretation anhand eines anrüchigen Romans aus dem 19. Jahrhundert zu spinnen. Geredet wird dabei nur im Zwiegespräch zwischen dem Erzähler und dem Sammler. Während sich der Sammler immer nur direkt an den Erzähler wendet, hat dieser eine allwissende Sonderstellung: Er nimmt es sich heraus, seine Sätze direkt zu dem Filmzuschauer zu richten, oder einzelne Handlungen des Sammlers zu kommentieren.

Das Abfilmen eines "tableau vivants" ist tendenziell kontraproduktiv. Als Kunstform in seiner reproduzierenden Aufgabe ein Vorgänger der Photographie, findet sich der besondere Reiz eben jener "lebendiger Bilder" doch darin, dass das Publikum durch jene erstarrte Schaustellung hindurchwandern kann, bis das Bild beendet ist. Dieser Effekt entfällt gänzlich bei der Photographie oder bei dem Abfilmen eines "tableau vivants". Erst wenn die Filmkamera die kleinen Fehler in der Kunstsimulation einfängt, vermittelt Ruiz' Film die ungewöhnliche Stimmung, die kultische Zeremonie, die bedrohlich anmutende Konzentration des "lebenden Bildes": Wenn die Akteure blinzeln, atmen, sich bewegen. Dann schwappt jene konspirative Verschworenheit unter den "tableau vivant"-Akteuren auch auf uns über und wir haben das Gefühl bei etwas ganz Einzigartigem dabei zu sein. So einzigartig und mystisch, dass es nur wenige Menschen seit der Erfindung des Photoapparates gesehen haben. Jener Mystizismus und jener zeremonieller Kult werden später im Film auch Subjekt der Auflösung des Rätsels um die Reihenfolge der Bilder.

Natürlich ist Ruiz' Film auch höhnischer, nahezu parodistischer Kommentar auf die Funktionsweise der Kunstinterpretation. Der Sammler, dessen idiosynkratische Besessenheit für eine einzige Interpretationsmöglichkeit wohl der Natur Klossowskis entnommen ist, findet in kleinen Details, nicht in den darstellenden Themen der Bilder die "Beweise" für die Verbindungen zwischen den Bildern, schafft es sogar, nachdem allen sechs Bilder beigewohnt wurden, eine Lösung für das Rätsel zu erstellen – bleibt jedoch unbefriedigt. Während er nahezu eine Stunde in Echtzeit mit Erzähler hochsprachig debattiert hat, sich immer wieder anderer Thesen und Zitate bedient hat, bleiben eigene Zweifel ob der Wahrheit seiner Interpretation. Höhepunkt Ruiz' leicht süffisanten Blicks auf den Kunsttheoretiker an sich, ist jene Szene, in der wir den Sammler im Sessel beobachten, wie seine Sätze über die Bilderreihe und dem gestohlenen Exemplar immer fahriger und leiser ausgesprochen werden, bis er schließlich einschläft. Die Kunst der Interpretation als gähnend langweiliges Handwerk wird durch die Kunst des Filmemachens parodiert, die selbst dann, wenn sie einen schlafenden Mann beobachtet, nicht "gähnend langweilig" wird. Man denke nur an Warhols "Sleep".

"The Hypothesis of the Stolen Painting" wirkt eben durch jene Implementierung banaler Szenen schlafender Protagonisten und den scheinbaren Ablauf in Echtzeit wie eine Dokumentation realer Vorgänge. Schon allein durch dieses Genre wird ein komplexes Wechselspiel erzeugt zwischen Leben und Kunst. Der vorliegende Film ist Kunst, imitiert aber Kunst, die Leben darstellt, während es Leben zur Thematik hat, die Kunst imitiert. Das Dokudrama spottet dem repräsentativen Anspruch des non-fiktionalen Films, bereitet seine Techniken und Stilformen auf, um eben jenes Realitätsabbild zu simulieren und es gleichzeitig mit Fiktion anzureichern.

Dadurch entsteht natürlich eine narrative Besonderheit. Während der Inhalt locker auf das Untersuchen des Sammlers einer Reihe von Bildern anhand ihres Skandalpotenzials zusammenschreiben kann, bleibt die Struktur ungewöhnlich und überraschend. So wird die eigentliche Untersuchung des Sammlers nicht einmal gezeigt. Was wir sehen ist der Sammler, wie er durch seine Beweise, seine "lebenden Bilder" stolziert, sie entsprechend seiner Interpretationen und Deutungsansätze arrangiert und von seiner Untersuchung und seines Ergebnisses berichtet. Die eigentliche Handlung der Untersuchung bleibt unvisualisiert, wir sind lediglich Zeuge einer Berichterstattung über die Untersuchung durch den Untersuchenden. Wie alte Freunde oder geschätzte Kunstkenner werden wir zusammen mit dem Erzähler in sein altes Haus eingeladen, damit er, der Sammler, uns durch seinen Irrgarten der Interpretationen führen kann. So gleicht die Erzählform des Films eher die einer Museumsführung: Die "tableau vivants" dabei sind die Ausstellungsstücke und der Sammler kommentiert akademisch ihren Gehalt. Und doch geht durch diese extravagante Erzählform Ruiz' Film keinerlei Spannung oder Faszination ab. Gerade durch die heimelige, private Begegnung zwischen uns, dem Zuschauer, dem eingeladenen Besucher und dem Gastgeber, des Sammlers, entsteht eine direkte Beziehung zwischen uns und dem ausführenden Schauspielers. Hinzukommt die mysteriöse Veranstaltung der "tableau vivants", die hier nicht nur als filmisches Mittel, also zur Visualisierung der thematischen Analyse dienen, sondern wie eine zeremonielle Geheimlehre aussehen und dem Film jene zauberhafte Anziehungskraft verleihen, die er zweifelsohne ausstrahlt.

Raoul Ruiz' "The Hypothesis of the Stolen Painting" ist ein fantastisches Meisterwerk, ein wichtiges, avantgardistisches Stück Filmkunst, das selber im Sinne von "L'art pour l'art" über die Kunst an sich reflektiert. Über die Kunst und das Leben mit der Kunst. Und über das Rezipieren der Kunst. Kein Thriller, kein reines Dokudrama, sondern Film, so rein, so wunderbar, so reich an künstlerischen Ausdrucks, so voll von Originalität und narrativem Einfallsreichtum. Kunst eben.

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