domingo, 14 de marzo de 2010

NIKOLAUS HARNONCOURT über HAYDN, HÄNDEL UND MENDELSSOHN.

ALLE KÜNSTLER SIND GLÄUBIG

Von Kronsbein, Joachim

Der österreichische Dirigent Nikolaus Harnoncourt über Händel, Haydn und Mendelssohn, die drei Musikjubilare des Jahres, über deutsche Romantik und seine Liebe zum amerikanischen Jazz

Harnoncourt, 79, ist einer der Pioniere der historischen Aufführungspraxis für Alte Musik. Weltweit gefeiert, hat er seine musikalischen Aktivitäten konsequent ausgebaut - bis hin zum Neujahrskonzert der Wiener Philharmoniker.

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SPIEGEL: Herr Harnoncourt, Händel, Haydn, Mendelssohn - die Musikwelt feiert in diesem Jahr die Jubiläen dreier großer Komponisten. Auf welchen könnten Sie am ehesten verzichten?

Harnoncourt: In der Kunst - ich spreche jetzt von der allerhöchsten Kategorie - kann man auf nichts verzichten. Da gibt es nur das Notwendige. Wollen Sie auf Leonardo da Vinci zugunsten Michelangelos verzichten?


SPIEGEL: Die drei stehen für Sie tatsächlich alle auf einer Stufe?

Harnoncourt: Ja sicher, jeder auf seine Weise.


SPIEGEL: Welcher ist Ihnen denn am nächsten?

Harnoncourt: Im Moment ein ganz anderer: George Gershwin. Die Partitur seiner grandiosen Oper "Porgy and Bess" liegt auf meinem Stehpult, weil ich dieses Werk bald dirigieren werde. Ich bin übrigens wohl der einzige Europäer, der diese Oper, die 1935 uraufgeführt wurde, seit gut 70 Jahren kennt.


SPIEGEL: Wie kam's?

Harnoncourt: Weil mein Onkel meinem Vater den Klavierauszug damals aus den USA geschickt hat. Als Sechsjähriger kannte und liebte ich schon "I Got Plenty o' Nuttin'" und die anderen Stücke. Ich habe "Porgy" immer aufführen wollen. Einmal gestand ich es Simon Rattle von den Berliner Philharmonikern. Er hat geantwortet: "You have not the passport for that. I have it." Und so mach ich es eben im Sommer in Graz.


SPIEGEL: Ihr Engagement für Jazz wird wohl all jene verstören, die Sie immer noch als Spezialist für historische Aufführungspraxis und Originalklang ansehen.

Harnoncourt: Kann ich nicht ändern. Gershwins "Porgy and Bess" ist Weltmusik, das müsste bei den Salzburger Festspielen aufgeführt werden. Ich will Ihrer Frage nach Händel, Haydn und Mendelssohn nicht ausweichen, ich weiß bloß keine Antwort.


SPIEGEL: Versuchen wir es anders: Welcher dieser Musiker ist Ihnen sympathischer?

Harnoncourt: Ist das wichtig? Ich kann nicht den geringsten Zusammenhang zwischen der Biografie eines Komponisten und seinem Werk erkennen. Ich weiß nicht, ob mir etwa Mozart als Mensch sympathisch gewesen wäre. Als Komponist ragt er mit Bach über allen anderen heraus. Man kann gerade bei ihm überhaupt keine Verbindung ziehen zwischen einem bestimmten Werk und dem, was ihm zur Zeit der Komposition zugestoßen ist. Er war sicher erschüttert über den Tod seiner Mutter 1778 in Paris. Aber die Werke aus dieser Zeit spiegeln das nicht wider. Sie sind ohne weiteres heiter. Nur, was ist heiter? Worüber lacht man? Jeder Humor ist wahrscheinlich schwarz. Ich habe noch nie jemanden über etwas Angenehmes lachen gehört. Deshalb habe ich einen Preis ausgesetzt.


SPIEGEL: Den Nikolaus-Harnoncourt-Preis für schwarzen Humor?

Harnoncourt: Es ist eher eine Preisaufgabe: Findet mir jemanden, der über etwas Schönes lacht. Das hat noch keiner geschafft. Nur Wahnsinnige und Babys lachen um des Lachens willen.


SPIEGEL: Ein allerletzter Versuch: Gibt es eine Entwicklung in Ihrer Zuneigung zu einem unserer Jubilare?

Harnoncourt: Ja, bei Mendelssohn und Haydn. Bei beiden hatte ich, wofür ich mich heute schäme, die allgemeine Meinung übernommen, dass sie doch eher nicht so bedeutend seien. Noch mein Vater hielt Mendelssohns Musik für glatt und leicht. Sie war damals sowieso von den Nazis verboten, aber das hat ihn nicht interessiert. Meine anfängliche Geringschätzung für Haydn folgte dem gängigen Urteil, dass sein Werk zwar eine gutkomponierte, aber brave Musik sei. Doch ich bin, das muss ich sagen, ziemlich früh von diesen Fehleinschätzungen abgekommen.


SPIEGEL: Was haben Sie entdeckt?

Harnoncourt: Bei Haydn diesen umfassenden Witz, den man damals nicht bemerkt hat, weil man ihn auch nicht gesucht hat. Es gibt keinen witzigeren Komponisten, keinen mit mehr Esprit. Schade nur, dass seine ausgezeichneten Opern kaum gespielt werden.


SPIEGEL: Warum eigentlich nicht?

Harnoncourt: Das weiß ich auch nicht. Die sind gut, sehr gut. Wenn ich aber der Wiener Staatsoper eine Haydn-Oper anbieten würde, hieße es garantiert sofort: "Ach, machen Sie doch gleich ,Così fan tutte' von Mozart." Es werden viel schlechtere Opern als die von Haydn aufgeführt, etwa die von Gluck. Aber so viel Geld können Sie mir gar nicht bezahlen, dass ich Gluck aufführen würde. Haydn ist ihm in allem - außer im rein Theatralischen - himmelweit überlegen. Allein die irrwitzigen Instrumentationen, die er verwendet hat, etwa seine vielen Werke für das Baryton.


SPIEGEL: Ein verschwundenes Instrument.

Harnoncourt: Ja, leider. Das Baryton sieht aus wie eine Gambe, und der hohle Hals ist hinten offen, darin liegen Metallsaiten, die man mit dem Daumennagel spielt. Das ist zum Teil verrückt schwer. Aber Haydns Arbeitgeber, Fürst Nikolaus I. Esterházy, hat es sehr geliebt und selbst gespielt. Für dieses Ding hat Haydn vertragsgemäß unglaublich viel komponiert. Über dieses Instrument bin ich übrigens zu Haydn gekommen.


SPIEGEL: Seine Streichquartette ...

Harnoncourt: ... waren mir natürlich schon bekannt. Er hat die Gattung ja praktisch erfunden und gleich zu höchster Blüte geführt. Und dann diese Freundschaft mit dem jungen Mozart, die beiden haben ja gemeinsam Quartett gespielt! Mir ist keine Künstlerfreundschaft bekannt, die so ehrfurchtsvoll, so bedeutend und so unabhängig vom Alter war, wie die zwischen Haydn und Mozart. Zwei, die einander erkennen und sich auf Augenhöhe begegnen. Mozart hat sonst keinen einzigen zeitgenössischen Kollegen anerkannt. Das fiel ihm beim alten Haydn leicht. Bemerkenswert ist ja die Art und Weise, wie Haydn seine Symphonien geschrieben hat.


SPIEGEL: Wie denn?

Harnoncourt: Naja, Haydn hat sich eine Geschichte ausgedacht, hat die aufgeschrieben und dann als Inspirationsquelle benutzt. Dann hat er die Geschichte vernichtet. Er hatte, davon bin ich fest überzeugt, auf Schloss Esterházy das damals beste Orchester der Welt. Und wenn er etwas gebraucht hat, bekam er es. Der Fürst hat es wohl als seine Aufgabe gesehen, Haydns Kunst der Welt zu schenken.


SPIEGEL: Und dann ist mit seinem Tod alles vorbei. Der unmusikalische Nachfolger entlässt das Orchester, macht das Theater dicht, und Haydn hat nichts mehr zu tun.

Harnoncourt: Das war das einzig Richtige. Der neue Fürst konnte doch auf dem Niveau nicht weitermachen. Also ist ein Schlussstrich das Beste.


SPIEGEL: Haydn hat eine späte Weltkarriere gemacht. Er ging nach London und wurde dort uneingeschränkt bejubelt.

Harnoncourt: Am Ende des 18. Jahrhunderts hätte vielleicht eine winzig kleine Zahl von Kennern Mozart als bedeutendsten Komponisten der Zeit genannt. Der berühmteste aber war damals sicher Haydn. Jeder, der dazu in der Lage war, hat bei ihm etwas bestellt.


SPIEGEL: Da war Händel, rund ein halbes Jahrhundert früher, schon weiter. Er hatte in London eine eigene Opernkompagnie und war sein eigener Chef.

Harnoncourt: Ja, der war sicher geschäftstüchtiger als Haydn.


SPIEGEL: Zum Hallenser Händel hatten Sie schon immer ein ungebrochen bewunderndes Verhältnis?

Harnoncourt: Stimmt. Und warum? Weil ich seine bewegende Melodik von Anfang an schätzte. Als junger Musiker habe ich fast jedes langsame Stück aus irgendeinem Werk, auch Arien, auf dem Cello gespielt. Diese Melodien gehen unter die Haut. Das sind Inseln der Innigkeit inmitten des orchestralen, barocken Prunks, den er auch vollendet beherrscht. Es gibt Komponisten, die schreiben ihre Stücke so, dass sie nur für ein bestimmtes Instrument oder für die menschliche Stimme funktionieren. Händel nicht. Da kann man eine Arie auf der Geige spielen oder ein Violinstück singen. Dieser Händel der langsamen Sätze war mir eigentlich immer der liebste. Da bin ich immer das cellospielende Kind geblieben. Später hat mich auch anderes bei ihm fasziniert. Seine unbändige Dramatik etwa.



SPIEGEL: Über sein Privatleben wissen wir wenig. Er war nie verheiratet. Einige Wissenschaftler glauben, er sei homosexuell gewesen. Angeblich höre man das auch aus der Musik heraus.

Harnoncourt: Na, bravo! Und Schubert soll es auch gewesen sein. Und Tschaikowski? Bei dem erkennt man seinen Hang zu Männern doch sofort in der "Pathétique", oder? Im Ernst: Man hört in der Musik vieles, aber nicht alles.


SPIEGEL: Händels Musik ist überaus sinnlich. Kann das ein unsinnlicher, asexueller Mensch schreiben?

Harnoncourt: Ich kann mir nicht vorstellen, dass irgendein Künstler sinnlich steril ist. Meistens sind Künstler in Bezug auf Sinnlichkeit sehr vielseitig. Ein Musiker hat ein Sensorium fürs Visuelle, für die Dichtung. Auch einen großen Künstler, dem das Essen wurscht ist, kann ich mir nicht denken.


SPIEGEL: Händel hat weltliche und religiöse Oratorien geschrieben. War er gläubig wie sein Zeitgenosse Bach?

Harnoncourt: Ich glaube, dass es überhaupt keinen Künstler gibt, der nicht gläubig ist. Nicht unbedingt im konfessionellen Sinne. Ich kann mir keinen wirklich bedeutenden Künstler denken, der tatsächlich glaubt, dass er seine überragenden Fähigkeiten sich selbst zu verdanken hat.


SPIEGEL: Wie konnte es passieren, dass gerade Mendelssohn mit seinen überragenden Fähigkeiten so lange so schlecht in der Musikgeschichte wegkam?

Harnoncourt: Gescheiten Leuten nimmt man übel, dass sie gescheit sind. Aber für seine Beurteilung war natürlich dieses unverschämte, antisemitische Pamphlet von Richard Wagner, "Das Judentum in der Musik", entscheidend. Das ist auf dem Gebiet der Verleumdung unter Kollegen wahrscheinlich das Schmutzigste, was es gibt. Wagner, Mendelssohn und Schumann sind fast gleichaltrig gewesen. Die beiden Letzteren haben dem Wagner halt den Gefallen getan, früh zu sterben. Da muss er jedes Mal Freudenfeste gefeiert haben. Mit einem lebenden Mendelssohn und einem lebenden Schumann wäre Wagners Erfolg so nicht möglich gewesen.



SPIEGEL: Dazu hätte Mendelssohn aber auch eine richtige Oper schreiben müssen.

Harnoncourt: Bei seinem Tod mit 38 Jahren stand er praktisch kurz davor. Hätte er länger gelebt, hätte er viele Opern geschrieben, und alle wären etwas geworden, da bin ich sicher. Ich mag solche hypothetischen Fragespiele. Überlegen Sie mal, was gewesen wäre, wenn beim Wiener Kongress 1814/15 Mozart noch gelebt hätte.


SPIEGEL: Sie werden sich die Antwort wohl selbst geben müssen.

Harnoncourt: Dann hätte nicht Beethoven, sondern Mozart den Kongress dominiert. Wenn Mozart gelebt hätte, wenn seine Musik gespielt worden wäre, dann wäre die Aufteilung Europas anders ausgefallen.


SPIEGEL: Wie denn, bitte schön?

Harnoncourt: Ja, das weiß ich doch nicht! So sind sie, die Journalisten: Ich will nur etwas sagen, über das man mal in Ruhe nachdenken könnte, und Sie wollen gleich das Resultat hören.


SPIEGEL: Zumindest was Mendelssohns Platz in der Musikgeschichte angeht. Ist er heute vollständig rehabilitiert?

Harnoncourt: Er ist sehr anspruchsvoll zu spielen, sehr schwer. Er wird heute immer noch nicht adäquat aufgeführt. Ich weiß nicht, ob das überhaupt geht. Er war ein Perfektionist, dem aber alles zugefallen ist. Die Ouvertüre zum "Sommernachtstraum" schreibt er als Jugendlicher und kann sie, weil sie perfekt ist, unverändert so lassen, als er Jahre später den Rest dazuschreibt. Jedenfalls ist er ein bedeutender Romantiker. Nehmen Sie seine Konzertouvertüre "Das Märchen von der schönen Melusine". Da steckt für mich alles drin, was ich für die Essenz der deutschen Romantik halte, nämlich die Beschäftigung mit der Wahnsinnsfrau.


SPIEGEL: Das Superweib, die lockende Lorelei auf ihrem Felsen über dem Rhein, der jeder Mann verfällt und an der er zerbricht?

Harnoncourt: Ja, etwas, das nicht existiert, das aber magisch anzieht. Der romantische Mann hat jedoch nicht die Kraft für diesen Wahn, er kehrt heim zu Bertha, zur viereckigen deutschen Frau. Und dann ist die Romantik vorbei - jedenfalls für ihn. Und Mendelssohns "Melusine"-Ouvertüre beschreibt das alles, inklusive der Katastrophe.


SPIEGEL: Er war privilegiert: beste Ausbildung, wohlhabendes Elternhaus, die Freiheit, das zu tun, was er wollte.

Harnoncourt: Ich glaube, dass es keinen Künstler gibt, der so gebildet und so begabt war wie Mendelssohn. Er hat gemalt und gezeichnet, er hat Goethe an einem einzigen Nachmittag beigebracht, was Musik ist. Er hat so überhaupt nicht dem Bild des Künstlers entsprochen, das im 19. Jahrhundert verbreitet war: dem Bild vom Hungerleider, der für seine Kunst Opfer bringt. Dass er so begabt und so wohlhabend war, hat man Mendelssohn übelgenommen.


SPIEGEL: Und seine jüdische Abstammung?

Harnoncourt: Das war ein anderes Problem. Sein Vater hat ihm vorgeschlagen, sich nur Felix Bartholdy zu nennen und den jüdischen Mendelssohn wegzulassen. Das hat der Sohn abgelehnt.


SPIEGEL: Hätte er nur Bachs Matthäus-Passion wiederentdeckt, sein historischer Rang wäre ihm sicher gewesen. Lag die Bach-Renaissance Mitte des 19. Jahrhunderts eigentlich in der Luft?

Harnoncourt: Glaube ich nicht. Man spielte ja hauptsächlich Zeitgenössisches. Am Alten war man nicht interessiert. Da musste schon ein Romantiker wie Mendelssohn kommen, um zu entdecken, dass in der Passion emotionale Elemente enthalten sind, die in die Zeit passten. Wenn man sich die bearbeiteten Noten der damaligen Aufführung anschaut, wird man Bach kaum darin erkennen. Es muss wie Mendelssohn geklungen haben.


SPIEGEL: Alte Musik galt damals nichts?

Harnoncourt: Ja, das war lange so. Zu Zeiten Mozarts gab es eine kleine Vereinigung von Musikfreunden, die sich exotischerweise für Altes interessierten. Die wollten, dass Händel aufgeführt wird. Da war der gerade seit zwanzig Jahren tot. Aber selbst diese Leute wären niemals auf die Idee gekommen, Händel-Noten aus der Stellage zu nehmen und die Werke einfach getreulich aufzuführen. So wurde Mozart engagiert, der den "Messias" und anderes bearbeiten sollte. Der hat dann Händel in die damalige Gegenwart hineingeholt.


SPIEGEL: Wie kann ein großer Komponist einem anderen so etwas antun?

Harnoncourt: Er tut ihm nichts an. Die Einstellung zur Authentizität war eine ganz andere als heute. Außerdem hat Mozart gar nicht verstanden, was Händel aussagen wollte mit seiner musikalischen Sprache. Seine Bearbeitungen zeigen das ganz deutlich. Heute würde man das im Pop-Bereich eine Cover-Version nennen.


SPIEGEL: Wie ist das, wenn Sie das "Halleluja" aus Händels "Messias" dirigieren, den Welthit der Klassik, den jeder kennt?

Harnoncourt: Wenn ich das dirigiere, wundere ich mich zunächst immer, dass es gar nicht so anfängt, wie man es zu wissen glaubt. Es ist am Anfang nicht jubelnd, nicht bombastisch. Es beginnt leise, zaghaft. Das ist ja auch menschlich. Emotionen steigern sich. Man ist nicht plötzlich, mit einem Schlag, in höchster Freude. Eine große Freude kann mit einer kleinen Freude beginnen; sie wird, wie eine Lawine, immer größer. Musik schenkt diese Freude. Unter anderem.

SPIEGEL: Herr Harnoncourt, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.

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