Musik muss die Seele aufreißen: Nikolaus Harnoncourt im Gespräch mit Ernst Naredi-Rainer (6/2003)
Gute Musik ist immer subversiv, sagt Nikolaus Harnoncourt (73), Dirigent mit Weltruf und Star des Festivals „styriarte“ – heuer mit dem Motto: Die Macht der Musik.
22 June 2003, Kleine Zeitung
Audienz beim Stardirigenten
Auch nach dreistündiger Generalprobe gibt es für Nikolaus Harnoncourt keine Ruhepause. Scheinwerfer flammen auf, und ganz entspannt gibt der Maestro dem ZDF ein TV-Interview für dessen Bericht über die Grazer „styriarte“-Produktion von Jacques Offenbachs „Großherzogin von Gerolstein“. Danach wartet die Korrektursitzung mit Regisseur Jürgen Flimm und den Protagonisten: Anderthalb Stunden währt die detaillierte Manöverkritik. Dann aber zieht sich der Pultstar gemeinsam mit Gattin Alice für das „Kleine Zeitung“-Interview zurück. Seine Bitte, „aber nicht zu lange“, vergisst er aber alsbald im Gespräch mit Hubert Patterer und Musikkritiker Ernst Naredi-Rainer, der als Konzertveranstalter anno 1980 die Heimkehr des Stardirigenten in die Steiermark eingeleitet hatte:
Worin besteht die Macht von Musik?
NIKOLAUS HARNONCOURT: Musik entfesselt unsere Emotionen und steuert sie, unabwehrbar. Musik hat wie jede Kunst die Macht, in uns etwas anzurichten, im Guten wie im Bösen. Denken Sie an die Kriegsmusik, an Trommel und Trompete, um die Kämpfenden anzufeuern und die Gegner zu schrecken, denken Sie an die Schlachtgesänge in den Stadien! Musik hat eine ungeheure emotionale Wirkung.
Man könnte einwenden: Das hat ein gutes Buch, ein gutes Bild auch.
HARNONCOURT: Ja, aber da können Sie die Wahrnehmung verweigern. Indem Sie die Augen schließen, dann sehen Sie das Bild nicht. Indem wir nicht lesen, dann haben wir die Dichtung nicht. Das Ohr ist nicht verschließbar. Es ist offen. Und wenn Sie es mit Musik beschallen, kommt die Musik in das Innere, ohne dass Sie sich wehren können. Darin liegt die Subversivität von Musik. Sie kann die Kaltblütigsten wehrlos machen. Es gibt Menschen, die gehen auf ein Begräbnis, beklagen den Verlust eines nahen Menschen und man merkt ihnen nichts an. Dann erklingt ein Streichquartett oder ein Chor, und es ist, als öffneten sich die Schleusen und alle emotionalen Sperren werden unterlaufen. Er kann die Emotionen gar nicht mehr zurückhalten. Das schafft nur die Musik.
Gute Musik, sagen Sie, ist immer oppositionell. Was ist gute Musik?
HARNONCOURT: Musik, die den Blick in Abgründe aufreißt und echte Inhalte vermittelt.
Leben wir mit zu viel Musik?
HARNONCOURT: Nein, mit zu wenig.
Thomas Bernhard hätte widersprochen. In den „Alten Meistern“ schrieb er, die Menschen würden heute mit Musik vollgestopft, so dass sie jedes Gefühl für Musik verloren hätten. Die pausenlose Musik sei das Brutalste, das Menschen zu ertragen hätten. Leiden auch Sie?
HARNONCOURT: Wenn ich von Musik berieselt werde, werde ich aggressiv. Für mich bedeutet Musik: zuhören. Ich kann sie nicht wahrnehmen, ohne zuzuhören. Musik in einem Lift oder in einem Gasthaus halte ich nicht aus.
Was tun Sie dann?
HARNONCOURT: Ich sag’ dem Ober, er möge das Zeug ausschalten. Wenn er es ablehnt, verlasse ich das Lokal und geh’ dort nicht mehr hin. Ich würde in einem Warenhaus, in dem ich berieselt werde, nicht einkaufen. Könnte ich gar nicht. Wenn der Zahnarzt mir ein Mozart-Klavierkonzert vorspielt, weil er denkt, ich hätte dann weniger Schmerzen, ist genau das Gegenteil der Fall: Die Schmerzen steigen ins Unerträgliche, weil ich das nicht aushalte – Musik zu hören ohne zuzuhören. Da steh' ich sofort auf.
Also doch zu viel Musik.
HARNONCOURT: Wenn man das Musik nennt, kann man sagen, es gibt zu viel Musik. Ich sage, es gibt zu wenig Musik. Denn gäbe es mehr Musik, wie ich sie verstehe, wäre so etwas nicht möglich. Dort, wo Musik als Musik erkannt wird, kann es die Musik als Berieselung – zum Klingen gebrachter Mist – gar nicht geben. Aber leider wird nur von sehr wenigen Musik als Musik erkannt und verstanden.
War gute Musik nicht immer elitär?
HARNONCOURT: Nein. In Wien wurde im 17. Jahrhundert in vierzig Kirchen jeden Sonntag eine Orchestermesse gespielt! Da hat in der Großstadt vom Stubenmädel bis zum Herzog jeder die neueste, zeitgenössische Musik gehört. In der Nationalbibliothek liegen heute noch tausende Kirchenmusikwerke aus jener Zeit, unbedeutende Kleinmeister, aber mit dem Vokabular und der Tatsache Kunst hat jeder Mensch zu tun gehabt. Wenn die Leute damals an einem Versammlungsort Berieselung gehabt hätten, wären sie davongegangen.
Und heute gehen die Leute bei anspruchsvoller
Musik davon?
HARNONCOURT: Wer geht in Konzerte? Das ist nur ein Bruchteil. Dasselbe gilt für die bildende Kunst. Sie sehen es sogar bei den TV-Millionenshows, wo Fragen über Kunst in erschreckender Weise beantwortet werden. Wenn einer nicht zufällig Kunstprofessor ist, dann wissen die unglaublichsten Leute nichts.
Hat schlechte Musik mehr Macht als gute?
HARNONCOURT: Nein. Schlechte Musiker sind in der Regel nach ein paar Jahren verschlissen. Auf der Bühne alt werden nur die guten.
Dann müssten Mick Jagger und Udo Jürgens gute Musik machen.
HARNONCOURT: Da ist was dahinter. Ich würde noch bessere Namen haben.
Verraten Sie uns einige?
HARNONCOURT: Bob Dylan, Chick Corea, Joe Zawinul und Quincy Jones, der gemeinsam mit mir 1994 den Polarpreis bekommen hat.
Ist populäre Musik immer schlechte Musik?
HARNONCOURT: Nein. Es gibt in jeder Musikgattung schlechte und gute Musik, wobei in vielen Genres die schlechte überwiegt. Aber man kann nicht sagen: Volksmusik oder populäre Musik ist schlecht. Ich maße mir an, einen Maßstab zu besitzen, mit dem ich Qualität erkennen kann. Wenn ein Musikstück nur aus zwei Akkorden besteht – nicht als bewusstes Kompositionsprinzip, sondern weil der überhaupt nur zwei Akkorde denken und spielen kann –, dann spür’ ich sofort, dass das eine geistige Beschränktheit ist, die aus dieser Musik kommt. Und wenn dann der, der die Musik darbietet, zufällig ein Charisma hat und diese Musik auf ein ebenso ahnungsloses Publikum stößt, dann kann das Produzenten reich machen und einen Millionenverkauf von CDs bringen. Alles schwer erträglich.
Wieso ertragen es so viele?
HARNONCOURT: Ich habe nicht die Exklusivrechte für guten Geschmack, aber als Profi tu ich mir natürlich leichter mit Maßstäben. Leider kann ich beim heutigen Erziehungssystem den Maßstab der Allgemeinheit nicht zubilligen. Da bin ich kein Demokrat. Ich sehe nicht ein, warum 80 von 100 Leuten einen guten Geschmack haben sollen, wenn sie überhaupt nicht gebildet sind, wenn man ihnen nie was erklärt und gezeigt hat.
Ist das Erziehungssystem verrottet?
HARNONCOURT: Ja, ist es. Wie soll ein Erziehungssystem etwas taugen, wenn die Prinzipien und die Lehrpläne von Ministerialbeamten und Politikern gemacht werden? Das ist ganz sachlich gesagt. Ein Politiker muss aus sich heraus kein abgerundeter, kulturell ernst zu nehmender Mensch sein. Er kann ein sehr guter Politiker sein, und es kann ihm trotzdem vieles in der Kenntnis dessen, was für einen Menschen notwendig ist, fehlen.
Wie viel Macht besitzt ein Dirigent?
HARNONCOURT: Die Macht, die in der Musik steckt, die hab’ ich als Dirigent zur Verfügung.
Sie haben einmal gemeint, Ihnen sei das Gefühl unangenehm, dass da womöglich Leute hinter Ihnen sitzen, die den ganzen Tag nur über den Verkauf von Gummireifen reden und sich dann am Abend mit Mozart einen hübschen Abend machen wollen. Wie unterlaufen Sie diesen Harmonie-Anspruch?
HARNONCOURT: Ich bin ja sehr dafür, dass die ihre Arbeit gut machen. Ich finde diese Arbeit nicht minderwertig. Nur will ich dem Publikum den Konzertsaal nicht als Sauerstoffzelt offerieren: Dass die Leute sagen, jetzt brauch' ich Erholung von der widerwärtigen Arbeit, jetzt hör' ich mir was Schönes an, besorg’ mir „Mozart-Glück“, und morgen geht es wieder gut weiter. Wenn Musik den Blick in einen Abgrund aufreißt, dann ist das keine Abend-Behübschung. Es kann eine große Bereicherung für den Menschen sein, der den Blick hat. Nur eine angenehme warme Dusche zu nehmen, um sich mit der Musik den Tagesdreck herunterzuspülen, ist zu wenig. Eine g-Moll-Sinfonie von Mozart vor lächelnd-kopfwiegenden Leuten zu spielen, wäre mir unerträglich, weil das einfach ein Todesstück ist, das die Seele aufreißt. Und wenn ich dann in einer Kritik lese, man habe das „Mozart-Glück“ erlebt, dann muss ich sagen: Was hat der da gehört? Wer in ein Konzert geht, muss etwas riskieren. Der muss riskieren, dass er etwas erlebt, dass mit ihm was passiert, und nicht, dass er gut unterhalten wird.
Freuen Sie sich, wenn Sie von Politikern geehrt werden?
HARNONCOURT: Ich habe ein paar Orden daheim, über die ich mich gefreut habe. Aber im Grunde bin ich nicht heiß auf Orden. Ich schau mir genau an, wer das ist, der mir einen Orden umhängt. Ich will nicht, dass ich mit einem Orden behängt werde, um den Verleiher mit dem Orden zu behängen.
Künstler werden im Zusammenhang mit der Politik oft missbraucht.
Sie sind 73. Wie schmerzlich ist die Vorstellung, einmal keine Musik mehr machen zu können?
HARNONCOURT: Unerträglich wäre mir nur, wenn ich nicht mehr hören könnte. Was natürlich passieren kann, weil die Mediziner machen einen ja immer älter. Und wir loben sie auch noch dafür, was mir völlig schleierhaft ist! Das Ideal der Mediziner scheint der Kampf gegen den Tod zu sein, das Ideal sollte aber sein, den Menschen ein würdiges Sterben zu ermöglichen. Mit der Geburt ist der Tod ja schon geklärt. Man wird geboren, um zu sterben. Also, was soll das Ganze? Sich gegen den Tod aufzulehnen, ist lächerlich.
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