Ich bin eiförmig“ (6/2007)
Nikolaus Harnoncourt eröffnet heute mit Beethoven die
„styriarte“. Ein Gespräch mit dem
77-jährigen Stardirigenten über Musiker und Mörder, Kinder und Kunst, Fußball und Sonnenhüte.
Ernst Naredi-Rainer & Michael Tschida, June 22, 2007
Wir trafen Nikolaus Harnoncourt nach einer Probe in der Grazer List-Halle. Der ORF hatte sein Interview mit dem Maestro gerade abgedreht.
NIKOLAUS HARNONCOURT: Kamera läuft nicht mehr, ich kann also ein Zuckerl in den Mund nehmen?
Kein Problem, das sieht und hört man in der Zeitung nicht . . . Für Sie gehört übrigens angesichts der Hitze der Mandl-Kalender umgeschrieben. Regel: „Zieht der Harnoncourt ins Land, kommt der Sommer angerannt.“ Sie schwitzen hier beim Proben für das Eröffnungskonzert der „styriarte“: Zwei Ihrer drei Programme widmen Sie Werken Ludwig van Beethovens. Welche Persönlichkeit war er?
HARNONCOURT: Ich habe keine Ahnung, ich kann mir kein Beethoven-Bild machen. Ich glaube nicht, dass es angenehm war, bei ihm Dienstbote zu sein – er war bestimmt kaum zufrieden zu stellen, dürfte aber andererseits ein weites Herz gehabt haben. Ein großer Künstler muss kein lieber, fantastischer Mensch sein, er kann auch unangenehm sein. Einem Beethoven, Mozart, Gesualdo oder Caravaggio muss man das alles aber verzeihen.
Gesualdo und Caravaggio, die Mörder waren?
HARNONCOURT: Wir sind ja heute Pharisäer mit dem, was wir verzeihen und was nicht. Für mich ist ein Caravaggio oder Beethoven sein Werk. Das Staunen über die Begegnung mit der Person will ich mir aufheben, wenn ich so jemanden wirklich treffe.
Von Bruckner haben Sie gesagt, er sei vom Himmel gefallen. Ist Beethoven auch so unbegreiflich?
HARNONCOURT: Ein großer Künstler ist unbegreiflich. Wir lecken alle an der großen Kunst, aber wir kommen nur bis zu den Waden der Künstler. Was oberhalb ist, ist für uns unbegreiflich.
Nun haben Sie aber als Interpret den Vorteil, weiter zu lecken als der unbefangene Zuhörer. Kann sich dieser so etwas Komplexem wie Beethoven nähern? Braucht man dazu unbedingt Bildung?
HARNONCOURT: Es hilft sehr. Die Überlegungen der Musiker und Theoretiker am Pariser Conservatoire spiegelten seinerzeit die Ideen der Französischen Revolution wider. Das Postulat hieß: Auch ein Hirte von der Alm muss ergriffen sein von Musik, selbst wenn er vorher noch nie mit ihr in Berührung kam. Ich bin nicht dieser Meinung. Die abendländische Musik hat mit dem Beginn der Mehrstimmigkeit eine Kompliziertheit bekommen, die als Sprache verstanden werden will.
Aber neben dem Hirn zählen wohl auch Herz und Bauch, oder?
HARNONCOURT: Natürlich hat große Musik immer auch emotionalen Anteil, so dass jeder reich beschenkt heimgeht. Aber verstanden werden will die Musik. Das rührt an eine meiner Hauptverzweiflungen: Kinder haben ein Recht darauf, Lesen, Schreiben, Rechnen zu lernen, um im Leben bestehen zu können. Aber zur Persönlichkeitsentwicklung gehört unbedingt die Kunst. Dass das in den letzten beiden Generationen leichtfertig weggeworfen wurde, halte ich für unverzeihlich.
Kann die derzeit diskutierte Gesamtschule zu einer Aufwertung der kreativen Fächer führen?
HARNONCOURT: Die Hoffnung habe ich, aber sie wird von den Fakten nicht sehr genährt. Das Ziel der Bildung ist ja heute nicht ein reifer Mensch, sondern einer, der so schnell wie möglich funktioniert und seine Fähigkeiten gewinnbringend einsetzen kann.
Bleiben wir beim Bild des Hirten: Das Eröffnungskonzert der „styriarte“ wird heute als Klangwolke im ganzen Land übertragen, auch auf dem Dachstein-Gletscher. Motto: „Klassik für alle“. Aber brauchen alle Klassik?
HARNONCOURT: Auf jeden Fall. Sagen wir so: Alle sollen Klassik brauchen, die gesamte Kunst.
Ist die Klangwolke eine Chance, Leute zu erreichen, die sich sonst überhaupt nicht für Klassik interessieren und – sagen wir – sonst nur ins Fußballstadion gehen?
HARNONCOURT: Das kann ich nicht beurteilen. Ich plädiere dafür, dass der Stellenwert der Kunst schon in der frühkindlichen Erziehung vollkommen gleichwertig mit den praktischen Fächern sein muss. Als Recht, seine menschliche Rundheit zu bilden.
Wie rund sind Sie geworden?
HARNONCOURT: Eben auch nur eiförmig. Aber natürlich wurde ich durch die Musik reich beschenkt,
Könnte man Sie umgekehrt in ein Fußballstadion locken?
HARNONCOURT: Meine Mutter war eine leidenschaftliche Fußballanhängerin, sie hat zum Beispiel alle Fußballer des GAK seit der Gründung bis etwa 1935 gekannt.
Aber das Fußballgehen hat sie Ihnen nicht mitgegeben?
HARNONCOURT: Eher meinen Geschwistern. Mein Großvater war übrigens Gründungsmitglied des GAK. Ich finde es sehr witzig, wenn sich jemand für Sport interessiert, das ist eine gute Sache.
Ein Sport war ja auch das Ringen um die Staatsopern-Direktion. Haben Sie das mitverfolgt?
HARNONCOURT: Ja, ein bisschen. Dominique Meyer und Franz Welser-Möst scheinen sehr gut zu sein. Aber es wartet eine schwere Aufgabe auf sie, dort ist ja auch unheimlich viel verpatzt worden. Wenn man nur darauf schaut, dass das Haus voll ist, gehen halt andere Sachen verloren.
Was konkret?
HARNONCOURT: Naja . . . da müssen Sie andere Leute fragen.
Denken Sie an ein Comeback an der Staatsoper?
HARNONCOURT: Nein.
Warum kombinieren Sie heute in der List-Halle die berühmte 5. Symphonie Beethovens mit seiner selten gespielten Messe in C-Dur?
HARNONCOURT: Sie sind praktisch zugleich komponiert. Ich stelle mir vor, dass Beethoven an einem Tisch die Partitur der Symphonie hatte und an einem anderen Tisch jene der Messe. Wenn er von wilden Verzweiflungsgedanken überwältigt wurde, hat er sich auf die Symphonie gestürzt; für das Lyrische hat er an der Messe weiter geschrieben. Fast alle Komponisten erarbeiten zwei konträre Werke gleichzeitig.
Können Sie in der 5. Symphonie noch Neues entdecken?
HARNONCOURT: Ich habe bis jetzt nicht verstanden, worum es in den ersten drei Sätzen geht. Das Finale ist das einzige Stück, in dem Beethoven agitatorisch ist und quasi Freiluftmusik schreibt. Er tritt damit quasi auf einen Balkon und sagt einer Menschenmenge etwas Grandioses, Herrliches. Wie sehr die anderen Sätze damit zusammenhängen, ist mir jetzt erst klar. Im Finale geht es um eine Befreiung und einen Triumph. Er führt Instrumente ein, die bisher in der Symphonie nicht verwendet worden sind: Posaunen, ein typisches Freiluftinstrument, die Piccoloflöte und das Kontrafagott. Ich bin der Meinung, es geht um das Leben unter Tyrannei und wie man sich daraus befreien kann. Die drei berühmten Schläge am Anfang des ersten Satzes sind sicher ein verzweifeltes Rütteln an Ketten. Auf die Idee, dass hier das Schicksal klopft, würde ich nie kommen. Meines Wissens ist es das einzige wirklich politische Stück, das Beethoven je geschrieben hat.
Wie deuten Sie den 2. Satz?
HARNONCOURT: Der 2. Satz ist ganz sicher ein Gebet. Da sind einige Gebetsformeln drinnen. In der Unterdrückung ist das Gebet etwas sehr Natürliches, um sich Hoffnung zu holen.
Floss Beethovens persönliche Situation in sein Werk ein?
HARNONCOURT: Ich trenne Biographie und Werk peinlich. Beethoven komponierte ja nicht biographisch, konnte die furchtbarsten Sachen erleben und witzige Stücke schreiben.
Spielt Beethovens Ertaubung eine Rolle in seinem Komponieren?
HARNONCOURT: Überhaupt keine. Beethoven hat seine Werke im inneren Ohr gehört. Die Stücke, die er in voller Taubheit komponiert hat, sind perfekt instrumentiert.
Wäre es für Sie das Schlimmste, das Gehör zu verlieren?
HARNONCOURT: Ich glaube nicht. Ich bin auch ein Augenmensch und hätte dann sicher andere Interessen. Mein Leben ist reich an Musik gewesen, das wäre nicht das Ende der Welt.
Darf man aus Ihrem Prinzip, nur Meisterwerke zu dirigieren, den Schluss ziehen, dass Sie Beethovens C-Dur-Messe und sein Oratorium „Christus am Ölberg“ für Meisterwerke halten?
HARNONCOURT: Klar, kein Zweifel.
Warum haben Sie dann die C-Dur-Messe nie zuvor dirigiert?
HARNONCOURT: Die Zahl der Meisterwerke geht weit über das hinaus, was Musiker leisten können.
Was schätzen Sie an der C-Dur-Messe besonders?
HARNONCOURT: Die zwei Komponisten, die drei Worte „Kyrie eleison, Christe eleison“ am reichsten auslegten, waren Haydn und Beethoven. Ein innigeres „Kyrie“ als jenes der C-Dur-Messe ist kaum denkbar.
Wie die C-Dur-Messe wird auch Beethovens Oratorium „Christus am Ölberg“ selten aufgeführt.
HARNONCOURT: Die Menschen heute sind ziemlich arrogant in der Beurteilung dessen, was gut ist und was nicht. Die Beurteilung der Kunst einer anderen Zeit gehört zum Schwierigsten. Für mich ist „Christus am Ölberg“ wegen des Textes problematisch, damals war er es überhaupt nicht. Beethoven war sehr empfindlich bei Texten und hat ein für ihn verfasstes Opernlibretto von Franz Grillparzer nicht komponiert.
Im Lift des Wiener Musikvereins hat Ihnen Ihre Frau einmal nach einer Aufführung den Strohhut aufgesetzt und Sie haben gesagt: „So, jetzt bin ich bereits auf Urlaub am Attersee.“ Wann beginnt bei Ihnen der Attersee in Graz?
HARNONCOURT: Nach der „styriarte“ sind wir natürlich wieder daheim in St. Georgen, da habe ich ja alle meine Sachen. Und dann gibt es noch zwei Wochen, in denen ich gar nichts dabei habe.
So richtig vorstellen kann man es sich nicht, dass Sie auf der faulen Haut liegen.
HARNONCOURT: Ich gehe viel spazieren. Früher waren meine Frau und ich oft Bergsteigen und unternahmen große Touren.
Es gibt für Sie also auch eine Zeit ohne Partituren?
HARNONCOURT (lacht): Ohne Partituren, ja. Aber mit Büchern
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